Springerin
Band XI Heft 4 / Band
XII Heft 1 – Winter 2006 – Kollektive Amnesien
P. 22-26
»Die Lehre von Marx
ist allmächtig, weil sie wahr ist«
Ein Gespräch mit dem russischen Künstler Dmitri Gutov über
Werk und Einfluss des Philosophen Michail Lifschitz
David
Riff
Dmitri
Gutov (geboren 1960) ist einer der wichtigsten Vertreter der russischen
zeitgenössischen Kunst. Aber gerade der zeitgenössischen Kunst – auf
deren Gebiet er als Installations- und Videokünstler sowie als Maler
tätig ist – steht er voller Skepsis gegenüber. Seit Ende der
achtziger Jahre gilt sein Hauptinteresse den sowjetischen dreißiger
Jahren und der marxistischen Ästhetik, die sich in diesen Jahren
entwickelt hat. Und zwar in ihrer konservativsten Fassung, nämlich der des
orthodox-marxistischen Philosophen Michail Lifschitz (1905–1983).
1994 gründete Gutov mit seinem Kollegen, dem Künstler und Kurator
Konstantin Bokhorov, das »Lifschitz-Institut«, das sich diesem
leidenschaftlichen Anti-Modernisten widmet. Als Lese- und Diskussionsgruppe
konzipiert, sammelt das Institut die Werke von Lifschitz, die mittlerweile
bibliografische Raritäten sind, stellt sie online, organisiert Seminare
und Diskussionsrunden und führt auch Ausstellungen durch, die Lifschitz
und seiner Kulturtheorie gewidmet sind. Worum es dabei aber eigentlich geht,
haben wir im folgenden Gespräch zu erörtern versucht.
David Riff: In den letzten 30 Jahren haben sich KünstlerInnen aus
Russland immer wieder der sowjetischen Vergangenheit zugewandt. Es scheint, als
wollten sie von der Peripherie der Gegenwart ins Zentrum ihrer eigenen
Geschichte zurückkehren, um das verlorene Geheimnis der sowjetischen
Epoche zu lüften. Besonders der Kreis der Moskauer Konzeptualisten sind
für einen solchen Historizismus bekannt. Doch all die Versuche, das
sowjetische Erbe – ob Kanon, Utopie oder Alltag – aufzuarbeiten, zeigen eher,
inwiefern die Epoche schon in ihrem Ausklingen von einer gewissen kollektiven
Amnesie befallen war. Etwas sehr Wichtiges haben sie vergessen. Aber was ist
dieses »Etwas« genau? Niemand scheint es wirklich zu wissen.
Dmitri Gutov: Ende der fünfziger Jahre entdeckte die Intelligenz
des Tauwetters unter Chruschtschow die Moderne wieder, aber alles, was mit der
»totalitären« Stalin-Epoche zu tun hatte, lehnte sie voller Ekel ab. Erst
Anfang der siebziger Jahre begannen die Konzeptualisten, sich für diese
Zeit zu interessieren. Die Vorahnung, die diesem Ansatz zugrunde lag, war nicht
falsch: Zu erforschen gibt es in dieser Epoche immerhin viel. Aber in der
Praxis arbeiteten die Konzeptualisten wie Raub-Archäologen. Die wertvollsten
Schichten zerstörten sie. Unauffälligere, aber umso wichtigere
Phänomene ließen sie einfach außer Acht. Ihre Aufwertung der
Stalin-Epoche betraf gerade ihre primitivsten, himmelschreiend vulgären
Elemente, den sowjetischen Trash. Hinzu kommt, dass die Konzeptualisten diese
Epoche als einheitlichen Stil verstanden. In dieser Hinsicht unterscheiden sie
sich kaum von der vorherigen Generation. Das »Lifschitz-Institut« machte eine
ganz andere Entdeckung (wenn man hier überhaupt von Entdeckungen sprechen
kann), und zwar, dass die Ganzheit des Gesamtkunstwerks Stalin eine Illusion
war. In dieser Epoche fanden wir einen inneren Bruch, der auf den
Messgeräten der Moskauer Konzeptualisten einfach nicht aufgetaucht war.
Riff: Um es also in den Begriffen der Moskauer Konzeptualisten selbst zu
fassen: Der konzeptuelle Historizismus strukturiert sich um ein leeres Zentrum,
in dem der innere Konflikt der späten zwanziger und frühen
dreißiger Jahre verborgen liegt. Ich denke, dieser innere Konflikt findet
seinen stärksten Ausdruck in den ästhetischen Debatten marxistischer
Theoretiker dieser Zeit, an denen Adorno, Benjamin, Brecht, Lukács und
auch der ästhetische Philosoph Michail Lifschitz (1905–1983) beteiligt
waren.
Gutov: Ja. Gerade die Debatten um Literatur und Kunst bilden den Nerv
der dreißiger Jahre, und Michail Lifschitz ist in diesen Debatten eine
zentrale Figur.
Riff: Aber scheinbar wurde dieser innere Konflikt erst mit dem
Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wieder denkbar, um mit Boris Groys
zu sprechen. Warum? Und warum gerade Lifschitz?
Gutov: Um zu verstehen, wie es möglich wurde, Lifschitz mit anderen
Augen zu lesen, muss man sich in die Perestrojka zurückversetzen. Eine
phantasmagorische, völlig eigenständige Epoche. Einerseits brach eine
unerhörte Freiheit ein. Der repressive Staatsapparat hatte weder die
Möglichkeit noch das Verlangen, sich in den spontan entwickelnden Lauf der
Dinge einzumischen. Andererseits hat sich noch keiner wirklich vorstellen
können, welche Macht das Geld eigentlich ausüben kann. Die
Perestrojka war sozusagen ein Lichtblick zwischen zwei Mechanismen der Gewalt;
der eine war schon verfallen, der andere noch nicht wirklich ausgeformt. Solche
Zeiten nannte Michail Lifschitz Zwischenräume der Geschichte. In seiner
Kulturphilosophie widmet er solchen Zuständen sehr viel Aufmerksamkeit.
Auf diese Weise versteht er zum Beispiel auch die Antike, und zwar als Spalt
zwischen der Archaik und den noch unentwickelten Klassengegensätzen der
kapitalistischen Zivilisation. Alles, was den Menschen und die Kultur
verstümmeln kann, ist in solchen Momenten geschwächt. Ähnlich
beschreibt er die Situation seines eigenen Lebens, an der Grenze zwischen den
zwanziger und dreißiger Jahren. Zwischen dem Vulgärmarxismus der
zwanziger Jahre und der düsteren Dogmatik der zweiten Hälfte der
dreißiger Jahre. Natürlich waren die späten achtziger Jahre,
die wir erlebt haben, nur ein blasser Abklatsch weitaus hellerer Lichtblicke,
aber etwas Ähnliches lag in dieser Zeit doch in der Luft.
Jedenfalls war die Entdeckung der Arbeiten von Michail Lifschitz ein Schock.
Für meine Generation, also für die, die in den siebziger und
achtziger Jahren studiert hatten, war der sowjetische Marxismus eine trübe
Suppe, eine Art Abrakadabra. Und gerade Lifschitz war als ihr orthodoxester
Vertreter bekannt. Um mit Dionysius dem Areopagiten zu sprechen: Im Epizentrum
dieser Finsternis entdeckten wir Licht. Es stellte sich heraus, dass es Texte
gibt, die sich mit genau den gleichen hölzernen Themen befassen, die uns
bis hin zum Brechreiz eingebläut wurden, die aber bei aller
äußerer Einfachheit spitzfindig und raffiniert waren. Als der
Hintergrund verschwand, mit dem sich
die Texte von Lifschitz verquickt hatten, fand sich der Schlüssel zu
seinen Texten, und zwar, dass man sie nicht wörtlich verstehen darf. Aber
das wurde, gelinde ausgedrückt, nicht jedem sofort klar.
Riff: Worin genau besteht die Besonderheit der Lifschitz’schen
Ästhetik?
Gutov: Um näher zu erklären, worum es geht, können wir
auf eine der bekanntesten Aussagen von Marx zur Kunst aus der Einleitung zu den
»Grundrissen« zurückgreifen. Marx schreibt: »Die Schwierigkeit liegt nicht
darin, zu verstehen, dass griechische Kunst und Epos an gewisse
gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist,
dass sie für uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung
als Norm und unerreichbare Muster gelten.«
Wenn man alle Überlegungen zur Normativität der griechischen Kunst
beiseite lässt, sieht man in diesem Satz ein zentrales Problem.
Nämlich, dass uns überhaupt ein Kunstwerk Kunstgenuss gewährt.
Unabhängig von den sozialen Umständen, unter denen es erschaffen
wurde. Das klingt wie eine nicht-marxistische, metaphysische Fragestellung. Im
Grunde genommen folgt aus diesem Zitat, dass die Kunst einen
außer-historischen Bestandteil enthält und dass dieser Bestandteil
eigentlich das Wichtigste an der Kunst ist. Keine Soziologie kann ihn erfassen.
In den dreißiger Jahren entdeckten einige Denker im Marx’schen
Vermächtnis einen konsequent anti-relativistischen Inhalt. Diesen kann man
mit der größten Klarheit sozusagen am Rande der klassischen
Marx’schen Themen erkennen. In der Kulturphilosophie von Marx. Vor Lifschitz
meinte man, dass eine solche überhaupt nicht existiert. Er rekonstruierte sie
anhand von akribisch gesammelten Aussagen von Marx und Engels zu Kunst und
Literatur, die er als Anthologie herausgab. An seinem Lebensende sagte er, dass
er gerade diese Arbeit weitaus mehr schätzt als seine anderen,
originären Beiträge.
Riff: Dennoch frage ich mich, ob es bei den ästhetischen Debatten
der zwanziger und dreißiger Jahre um den »Kunstgenuss« ging, den Marx in
seiner Einleitung beschreibt. Und wie verstand Lifschitz diesen Genuss?
»Kunstgenuss« klingt für mich nach Spät-Romantik, nach Biedermeier,
nach einem kurzweiligen, bürgerlichen Luxus.
Gutov: Das Wesen dieses Kunstgenusses ist damit verbunden, dass dem
Menschen im Spiegel der Kunst der Sinn seines eigenen historischen und
persönlichen Lebens mit größerer Klarheit erscheint. Bekanntermaßen
sprach Marx nicht gerne von ewigen Dingen. Seit seinem frühen Artikel
»Debatten zum Holzdiebstahlgesetz« (1842) konzentrierte er seine Aufmerksamkeit
auf materielle Verhältnisse. Dennoch, und hierin besteht die große
Entdeckung der dreißiger Jahre: Die äußerst bodenständige
Sprache von Marx enthält mehr treffsichere Ansätze zu traditionell
als metaphysisch aufgefassten Fragen denn Lehren, die solche Fragen frontal
auslegen. Auf Marx projizierte man in den Dreißigern sozusagen das alte
Sprichwort aus dem Orient: »Der Wissende spricht nicht; der Sprechende
weiß nicht.«
Riff: In diesem Sinne ging es also in den Debatten der zwanziger und
dreißiger Jahre um die Wahrheit und nicht um den Genuss, also um das
Diktum Lenins: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.«
Gutov: Genau. Lifschitz formuliert seine wichtigste Entdeckung wie
folgt: »Der echten marxistischen Klassik ist ein absoluter Standpunkt bei
weitem nicht fremd. Für sie sind Wahrheit, Gerechtigkeit und
Schönheit keine Bedingtheiten der Zeit, sondern der höchste Inhalt
des Klassenkampfes, und echte Werte gehören überhaupt zu den
objektiven Prädikaten der Wirklichkeit selbst.« Das war Marx, nicht
einfach durch Hegel, sondern durch Platon gelesen.
Riff: Eine weitere Frage: Du sagst, dass Lifschitz bei Marx den
ultimativen Inhalt der Kunst außer-historisch versteht. Aber es gibt auch
eine nicht weniger interessante Art, dieses Zitat aus den »Grundrissen« zu
lesen. »Die Griechen«, schreibt Marx dort, »waren normale Kinder.« Für uns
hängt der Reiz ihrer Kunst damit zusammen, »dass die unreifen
gesellschaftlichen Bedingungen, unter der sie entstand …, nie wiederkehren
können.« Wie normale Kinder antizipieren sie ein Erwachsenwerden, aber die
Entzauberung des Erwachsenseins gibt ihrer Hoffnung keine Chance: »Wo bleibt
Jupiter gegen den Blitzableiter?« Was dennoch vom Kunstwerk bleibt, ist seine
Vorahnung einer kommenden Wahrheit, einer Erlösung. Aber die Erlösung
lässt auf sich warten. Das Resultat: Eine Kluft zwischen einer »kommenden
Gemeinschaft« und der Wirklichkeit, deren historische Kräfte uns wie Vieh
zusammentreiben. Gerade diese Erwartung ist in jedem Kunstwerk spürbar,
stellt seinen Nutzwert dar und rechtfertigt seine Zirkulation als Ware, die
trotz aller Unwiederholbarkeit die Reproduktion erzwingt. So werden wir im
Endeffekt die Hoffnungen der »normalen Kinder« immer wieder betrügen.
Könnte man hier nicht eine Verbindung zu den zwanziger und dreißiger
Jahren herstellen? Zu dem Bewusstsein eines katastrophalen Verrats, der gerade
stattfindet oder gleich stattfinden wird? Wenn es nicht darum geht, dann sind
all unsere Gespräche um die Unwiederholbarkeit der zwanziger oder
dreißiger Jahre nichts als Historizismus.
Gutov: Nun ja, bei der Rückbesinnung an die sowjetischen zwanziger
und dreißiger Jahre handelt es sich nicht um Historizismus. Die
Einmaligkeit dieser Zeit liegt in ihrem Vorgriff auf die Zukunft. Breiter
gefasst könnte man ähnliches vom gesamten Marxismus behaupten. Das
Interesse an ihm ist das Interesse an einer Zukunft, die für einen kurzen
Augenblick sichtbar wurde, mit einer Intensität, die fast jenseits aller
Wahrnehmung liegt. Deshalb hat das historische Gedächtnis diese Erfahrung
nur mit größter Mühe festhalten können. Heute muss man diese
Erfahrung aus Fragmenten wieder zusammenfügen, aus schwachen Spuren in den
Ruinen, aus Bruchstücken, Andeutungen und Schatten.
In diesem kurzlebigen Einblick in die Zukunft lag ein riesiger Widerspruch.
Einerseits war das eine Welt nach dem Kapitalismus. Die realisierte Vorahnung
einer klassenlosen Gesellschaft. Die Materialisierung einer Theorie von einer
höheren Form des Lebens. Der gefundene Schlüssel zum Geheimnis der
Geschichte. Viele Aspekte des Alltags trugen schon die Züge des realen
Kommunismus. Aber die Rückseite dieser Erfahrung war ein im Laufe der
dreißiger Jahre wachsendes Bewusstsein, dass die Revolution eine fatale
Niederlage erlitten hatte. Dass sie in ihren wichtigsten Zügen
unrealisiert blieb. Dass sie sich in einen völlig irrationalen Alptraum
verwandelt hatte. Der Zusammenbruch des Realsozialismus, den wir in den
achtziger Jahren erlebt haben, war nichts als ein schwacher Widerhall dieser
Niederlage.
Die Quintessenz der dreißiger Jahre liegt also darin, dass der
Kommunismus gleichzeitig durchgesetzt wurde und sich als undurchführbar
erwies. Diese Einheit – die die innere Erfahrung einer ganzen Generation
prägte – bleibt auf unabsehbare Zeit lebendig. Gerade deswegen kann man
sich auf diese Erfahrung noch stützen, auch wenn uns die heutige Situation
noch so hoffnungslos erscheint. Es war doch irgendwann einmal Wirklichkeit.
Um noch einmal auf Amnesie zurückzukommen: Der Schock dieses beispiellosen
Fehlschlags hatte seine posttraumatischen Folgen; das Wertvollste wurde
gelöscht. Gerade deshalb erscheint die Marx-Lektüre der
dreißiger Jahre so unschätzbar. Das, was sie bemerkt haben, ist
unter anderen Umständen unsichtbar. Das Zwielicht der gleichzeitig
siegreichen und sterbenden Revolution ist einmalig. Unsere Erfahrung hat viel
weniger Farbe. Als Überlebende des Untergangs der Illusionen waren die
Menschen der dreißiger Jahre viel nüchterner als wir, doch als
Zeugen der realisierten Revolution, die nicht illusorisch war, gehören sie
dem morgigen Tag.
Riff: Dennoch war gerade Lifschitz ein konservativer Philosoph, ein
überzeugter Gegner des Modernismus. Ein weiterer Widerspruch! Worin liegt
sein revolutionäres Potenzial, seine Vorwegnahme der Zukunft?
Gutov: Um diese Frage zu beantworten, müsste ich den
Lifschitz’schen Begriff des Konservativismus auslegen, einen seiner zentralen
Begriffe. Um ihn aufs Wesentliche zu reduzieren: Jegliche mechanische
Gegenüberstellung von Revolutionärem und Konservativem ist
oberflächlich und geradezu sinnlos. Es gibt Formen des Ultrarevolutionären,
in dessen Herzen ein reaktionärer Konservatismus verborgen liegt. Die
Träger eines solchen Bewusstseins illustrieren diese Idee oft mit ihrem
Schicksal, besonders wenn sie stufenlos vom radikalen Bruch zum religiösen
Obskurantismus übergehen. Es gibt aber auch Konservatismus mit einem
innigen demokratischen Inhalt, mit einem kolossalen Protestpotenzial. So
verstand Lifschitz Sokrates, Platon, Aeschylos, Aristophanes, Dante,
Shakespeare, Goethe, Pushkin und Dostoevskij. Hierher rührt auch sein
Interesse am konservativen Kunstideal von Marx und Lenin. All diese
Überlegungen sollte man auch auf Lifschitz selbst anwenden, der meist als
erzkonservativer Obskurant und Reaktionär verstanden wird. Er nannte das
die große Wiederherstellung der Wahrheit alter Kulturen ohne retrograde
Ideen.
Riff: Daher also auch Lifschitz’ Kritik der künstlerischen
Avantgarde …
Gutov: Eine der Mappen aus dem Archiv von Lifschitz, das unlängst
zum Teil veröffentlicht wurde, heißt »Der Sinn der Welt.« In dieser
Mappe gibt es ein Fragment, das Licht auf den Zorn wirft, mit dem sich
Lifschitz auf das gesamte ästhetische Projekt des 20. Jahrhunderts
stürzt. Es klingt wie folgt: »Die Idee des Absurden ist
äußerster Ausdruck des Irrationalismus (gibt es schon bei Dada). Das
Absurde ist die Negation der ›Logodizee‹, adaequatio rei et intellectus [die
Übereinstimmung der Dinge und des Intellekts]. Nicht die
Irrationalität als die beste Art der Einsicht in die Welt, sondern die
Irrationalität der Welt an sich, das Absterben ihrer Vernunft – nicht nur
in dieser konkreten Form, sondern in der Form der Möglichkeit.« Die
Richtung, die die Kunst nach Picassos »Die Jungfern aus Avignon« endgültig
eingeschlagen hat, versteht Lifschitz als plastisches Äquivalent zum
»Absterben der Vernunft der Welt
in der Form ihrer Möglichkeit«.
Riff: Also eine totale Ablehnungshaltung gegenüber der
zeitgenössischen Kunst, im Nahmen der Wahrheit und der Vernunft. Du aber
bist ein zeitgenössischer Künstler und findest trotzdem gerade in
Lifschitz deine wichtigste Inspiration. Wie ist das möglich?
Gutov: Ich sehe im Projekt der zeitgenössischen Kunst insgesamt
etwas Unbefriedigendes. Besonders in den Manifestationen, die als erfolgreich
gelten. Beim Durchblättern von Kunstzeitschriften und der Teilnahme an
Ausstellungen überkommt mich ein nahezu körperliches Unbehagen. Aber
hier würde ich auch gerne die Beobachtung anwenden, die ich vorher
über die sowjetische Erfahrung der dreißiger Jahre gemacht habe.
Innerhalb dieser Ganzheit gibt es auch einen inneren Bruch. Etwas, das einem tiefen
Unbehagen entspricht. Aber gerade dieses Unbehagen kommt der Kunst einer
künftigen kommunistischen Gesellschaft am nächsten.
Meine Hinwendung zu den dreißiger Jahren ist die Hinwendung zu einem
Anfang, der kein Ende gefunden hat. Auf der Ebene der künstlerischen
Praxis entspricht dies einer Rückbesinnung auf die Grundlagen, zu
elementaren mimetischen Versuchen, zur Arbeit an Werken, die irgendetwas
abbilden. Nach all den künstlerischen und sozialen Experimenten des
vergangenen Jahrhunderts ist das, als wolle man eine Fischsuppe in ein Aquarium
verwandeln.
In deutscher Sprache sind folgende Bücher von Michail Lifschitz
erschienen:
Karl Marx und die Ästhetik. Dresden 1967.
Krise des Hässlichen. Vom Kubismus zu Pop Art. Dresden 1972.
Die dreißiger Jahre.
Ausgewählte Schriften. Dresden 1988.